Das Prinzip der Toleranz und seine theologische und praktische Bedeutung für die Orthodoxie heute

Vortrag Seiner Eminenz des Metropoliten Arsenios von Austria

mit dem Titel „Das Prinzip der Toleranz und seine theologische und praktische Bedeutung für die Orthodoxie heute“

am Orthodoxen Studientag an der KPH Wien/Krems am 7. November 2013

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wenn die Liebe und vor allem die Nächstenliebe die Quintessenz der christlichen Ethik ausmacht, da sie „alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, allem standhält“[1], dann gewinnt die Idee der Toleranz als gegenseitige „Anerkennung“ von Überzeugungen, Weltanschauungen und Bekenntnissen im heutigen Rahmen der interkonfessionellen und interreligiösen Begegnung mehr an Plausibilität und an Bedeutung.

Denn ein solches Verständnis dieses Gedankens setzt ein von kulturgeschichtlichen und religionsgeistigen Entwicklungen geprägtes Bewusstsein voraus. Ein solches Verständnis von Toleranz, das man dialogische Toleranz[2] nennen könnte, zielt darauf ab, das Ideal einer interkulturellen und interreligiösen Begegnung zu entwickeln.

Diese Begegnung ist durch den gegenseitigen Respekt der verschiedenen religiösen Gruppen gekennzeichnet. Diese Vorstellung von Toleranz versucht, den inneren Widerspruch zu entschärfen. Denn Toleranz ist eigentlich ein Konfliktbegriff. Ich toleriere etwas zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Dieser Punkt markiert, was nicht mehr akzeptiert werden kann, was eigentlich nicht sein sollte oder zumindest unerwünscht ist.

Die Herausforderung liegt also darin, wie eine Religion, in deren Kernbereich ein Wahrheitsanspruch zu finden ist, mit dem Begriff der Wahrheit umgehen soll. Das Verständnis der Orthodoxen Kirche von der Wahrheit verbindet sich mit drei gewichtigen Grundannahmen:

Die erste Grundannahme ist: Der Apophatismus.[3] Das heißt, dass die Wahrheit den Weg, durch den wir Aussagen über sie machen können, radikal transzendiert. Diese Auffassung der Wahrheit wurde von den Vätern der Kirche übernommen: „Die Natur Gottes ist unaussprechlich“ (ἄφραστος γὰρ ἡ φύσις τοῦ ὄντος).[4]

Die zweite Grundannahme ist: Die Ekklesiologie. Die Wahrheit ist dem orthodoxen Verständnis nach ein Ereignis und Resultat einer Gemeinschaft mit dem Anderen, dem Nächsten. Sie wird nicht von oben durchgesetzt, sondern sie entsteht aus dem freien Umgang der Gläubigen innerhalb des Körpers der Kirche.[5] Aus diesem Grund werden die Dogmen der Kirche nur zu absoluten Wahrheiten, wenn sie von dem ganzen Corpus der Kirche aufgenommen sind.[6]

Die dritte Grundannahme ist: Die Eschatologie. Die Wahrheit enthüllt sich in ihrem vollem Ausmaß in den letzten Zeiten, in denen, dem Apostel gemäß, Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen werden wird. Diese Vorstellung führt der berühmte Kirchenvater Maximus Confessor mit dem folgenden Satz ins Feld: „Schatten sei alles, was das Alte Testament uns erzählt, Abbild sei das vom Neuen Testament Fortgeführte, Wahrheit sei der Zustand all dessen, was in der Zukunft kommt“.[7]

Diese drei vorgeführten Hauptansichten der orthodoxen Position relativieren nicht die Wahrheit als Größe in ihrer geschichtlichen Gestalt. Sie erweitern vielmehr den Rahmen, in dem man sich bewegen kann, wenn man von den heiligen Schrift-Texten und den religiösen Dogmen reichlichen Gebrauch macht.

Unter Berücksichtigung einer solchen Konzeption von der Wahrheit erweist sich der Andere in den Augen der orthodoxen Theologie nicht einfach als erträglich. Der Andere ist sozusagen »erträglich« im Rahmen eines friedlichen Zusammenlebens, in dem die Zusammenarbeit und die gemeinsamen Anstrengungen für die Einheit der Christen wesentlich sind.

Ein solches Verständnis von der tolerierenden Haltung konkretisiert sich im folgenden Verhalten: Ich bin, wer ich bin. Ich glaube an die Richtigkeit meiner Ansichten und meiner Überzeugungen. Ich bete für das Gute des Anderen und bemühe mich ernsthaft im Rahmen einer friedlichen Koexistenz und eines bereichernden Meinungsaustausches, ihm das näher zu bringen, woran ich glaube. Zugleich erkenne ich ihm das Recht zu, das Gleiche für mich zu tun.

Eine solche Art von Toleranz ist die richtige Haltung gegenüber denjenigen, die einer anderen Glaubensüberzeugung sind. Toleranz bedeutet Toleranz gegenüber ihren Ideen und Ansichten. Eine solche Haltung stützt sich auf die Liebe zum Mitmenschen.

Die Idee der Toleranz geht also dem orthodoxen Verständnis nach viel tiefer als das, was das Mailänder Toleranzedikt von 313 damals beinhaltete. Das orthodoxe Verständnis von Toleranz im Sinne eines brüderlichen Umgehens ist Ausdruck des apostolischen Glaubens. Es entspricht dem ständigen Bemühen der orthodoxen Kirche, im Laufe der Geschichte immer für die Wiederherstellung der christlichen Einheit und die Etablierung des Friedens weltweit einzutreten. Es stützt sich auf eine tief in die Lehre des Evangeliums und der Kirchenväter verwurzelte gewichtige Idee. Als Fundament für die Völkerversöhnung ist die Würde der menschlichen Person als persönliches Geschöpf Gottes unerläßlich.

Der Mensch war und ist für die Orthodoxe Kirche immer der eigentliche Gegenstand ihrer Sendung in der Welt und in der Heilsgeschichte. Die besondere Würde des Menschen lässt sich an den Worten des Basileios des Großen erkennen: „Verzweifle also nicht an dir selbst und lasse nicht alle frohe Hoffnung fahren, weil du nichts von dem hast, was in diesem Leben wünschenswert ist. Weise vielmehr deine Seele hin auf jene Güter, die Gott dir schon zuteilwerden ließ und die laut Verheißung später für dich aufbewahrt sind. Fürs Erste bist Du ein Mensch, allein von den Lebewesen von Gott gestaltet (θεόπλαστον).“[8]

Ebenbildlichkeit und die Möglichkeit und innere Neigung zur Angleichung an Gott machen also zusammengenommen die besondere Würde des Menschen aus. Diese Lehre über den universalen Charakter der Menschenwürde wird besonders bei Johannes Chrysostomos zum Ausdruck gebracht: „Denn die Gnade ist auf alle ausgegossen und verschmäht nicht Juden, Griechen, Barbaren, Skythen, nicht den Freien, den Sklaven, Männer, Frauen, den Alten, den Jungen. Alle werden auf gleiche Weise zugelassen und eingeladen nach Maßgabe gleicher Würde“.[9]

Diese in der patristischen Tradition verwurzelte Vorstellung von einer besonderen Würde, die allen Menschen zukommt und alle Menschen unabhängig von ethnischer Herkunft oder sozialer und rechtlicher Stellung teilen, ist die unerschöpfliche Quelle allen heutigen christlichen Bemühens zum Schutz des Wertes und der Würde der menschlichen Person. In diesem Geist der Anerkennung der Heiligkeit des menschlichen Daseins fühlt sich heute die orthodoxe Kirche aufgerufen, zur interreligiösen Verständigung und Zusammenarbeit zur Beseitigung von jeglichem Fanatismus beizutragen. Damit fördert sie maßgeblich die Verbrüderung der Völker und die Durchsetzung der Güter der Freiheit und des Friedens in der Welt zum Wohle des heutigen Menschen unabhängig von Rasse und Religion.

Es versteht sich dabei aber von selbst, dass diese Zusammenarbeit jeden Versuch ausschließt, irgendeine Religion oder Konfession anderen aufzuzwingen.[10]Eine Durchsetzung der eigenen Werte, Sitten und Gebräuche auf eine andere religiöse oder konfessionelle Gruppe entspricht dem heutigen Sinn der Idee der Toleranz überhaupt nicht. Im Gegenteil, das gegenseitige Respektieren der Eigenart und der kulturellen Besonderheit des Anderen kann zu einer versöhnten Verschiedenheit führen und sich damit als produktiv erweisen.

Die Geschichte lehrt uns, dass das Tolerieren im Sinne des Respektierens der kulturellen Besonderheit einer anderen Konfession die Kirchen näher bringen kann, als das heute manchmal der Fall ist. Der Patriarch Photios von Konstantinopel deutet in seinem liebenden Brief an den damaligen Papst Nikolaos eine tolerierende Haltung der liturgischen Praxis der lateinischen Kirche gegenüber an, die sich als belehrend für die praktischen Auswirkungen der Toleranz heuzutage erweisen könnte: „ … die Verschiedenheit und Vielfalt in der liturgischen Praxis stand uns nicht im Wege, die einzigartige und zur Vergöttlichung führende Gnade des Heiligen Geistes ohne Vermehrung und ohne Veränderung in sich bei dem dort Vollendeten aufzunehmen“.[11] Verschiedene Traditionen im praktischen Leben der Christen können also nebeneinander jahrhundertelang bestehen und als legitime Vielfalt toleriert werden. Diese tolerierende Annäherung der Verschiedenheit kann zu einem Faktor von Erneuerung werden, und kann dazu beitragen, sich wieder in die Umstände zu vertiefen, wodurch sich das Christentum spaltete und daraus konkrete Ergebnisse abzuleiten.

Durch den Patriarchen Photios lernen wir auch, was der Sinn der Toleranz ist, besonders wenn man mit dem Andersgläubigen zu tun hat: „Denn der Ungläubige ist geheiligt worden. Und sogar auch den Ungläubigen zu tolerieren und ihn nicht davon abzuhalten, mit dem Gläubigen umzugehen liegt dem nahe, was auf Frömmigkeit gerichtet ist. Aber man könnte sagen, es kann sein. Nun indem man sich auch dasselbe im Blick auf den Gläubigen vorstellt, könnte man sagen, dass er dem nahe liegt, was sich auf die Gottlosigkeit richtet. Dazu aber sagen wir, dass es nicht das Gleiche ist. Man würde sagen ganz und gar nicht. Einerseits, indem der Gläubige mit dem Ungläubigen zusammenlebt, erfüllt er dadurch den Auftrag und das Gesetz des Glaubens, sodass er sich in dieser Weise den Glauben stärker zu eigen gemacht und sich von der Ungläubigkeit entfernt hat. Der Ungläubige andererseits, da er allein durch die Liebe zu dem, mit dem er den Umgang hält, angebunden ist, löst diese Bindung nicht auf, und indem er kein Gesetz, das aus seiner eigenen Ungläubigkeit resultiert, erfüllt, wird er irgendwann, indem er Liebe dem Gläubiger gegenüber aufweist, durch ihn zu dessen Glauben geleitet werden. Und jemanden zu lieben, selbst ist etwas, das zu der frommen Gesetzgebung gehört und nicht zu der gottlosen, sodass er der Ungläubige auch durch diese Weise der Frömmigkeit nahe kommt und mittels seines ständigen Umgangs mit dem Gläubigen geheiligt worden ist“.[12]

Der oben vorgelegte Text zeigt, dass das friedliche, vorurteilslose und vor allem liebende Zusammenleben und Umgehen mit dem Anderen viel weiter über das hinausgeht, was man heute unter einer relativierten Toleranz versteht. Nämlich sich dem Anderen gegenüber überlegen zu fühlen oder ihn unter Vorbehalt zu akzeptieren, das heißt, solange er unser Privatleben nicht bedroht und solange er für unsere individuelle Glückseligkeit nützlich ist.

Die ethischen Nuancen, die hier zum Vorschein kommen, entsprechen deutlich dem biblischen Zeugnis, das zur Austreibung der Furcht vor dem Anderen aufruft: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“ (1 Joh 4,18). Die ethische Aufforderung lautet, sich gegenüber dem Anderen zu öffnen und sich mit ihm in Beziehung zu setzen und sich von der inneren Pathologie, nämlich der Furcht vor den Anderen, die auch von Anfang an unsere Existenz prägt, zu befreien.[13] Das leitende Motiv dabei ist nichts Anderes als die Liebe zum Mitmenschen, die keine ethnische, religiöse und kulturelle Grenze kennt, sondern sie eher überwindet.

Wahre Liebe ist eine Bejahung der Einzigkeit des Anderen. Das heißt, dass der Andere, indem er als Anderer existiert, zugleich ein einzigartiges und besonderes Dasein ist.[14] Die wahre Liebe zu Gott geht durch die Liebe zum Mitmenschen. Niemand kann behaupten, dass er Gott liebt, ohne seinen Mitmenschen geliebt zu haben.[15] Eine tolerierende Haltung bedeutet in dieser Hinsicht, „nach dem Guten des Anderen zu suchen“ (1 Kor 10,24), sich um den Anderen zu kümmern.[16] Der Andere muss unsere erste Priorität sein.

Unter diesem Blickwinkel entwickelt sich ein Geist von Solidarität, der als höchste Prämisse hat, dass wir alle zu derselben Familie gehören. In einer guten Familie stehen wir einander nicht mit verhärteten Herzen gegenüber, sondern nehmen einander als Freunde an. Dadurch bereichern wir einander aus dieser Verschie­denheit heraus und tolerieren einander nicht nur unwillig.[17] Solidarität betrachtet die Menschen nicht als vereinzelte Individuen, sondern als Personen, die auf die Liebe des Anderen und zum Anderen angewiesen sind, was für deren Selbsterfüllung und Vollendung nötig ist. Wir sind autonom. Unsere Autonomie aber ist durch eine gemeinsame Sorge für das Gute gestaltet.[18]

Die Verbindung der Idee der Toleranz mit solchen Nuancen ist heute unerlässliche Voraussetzung für ein kohärentes Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft. In dieser pluralistischen Gesellschaft gehören Menschen und Familien und ganze Landstriche verschiedenen Bekenntnissen, Religionen und Weltanschauungen zu. Christen leben mit Atheisten und Skeptikern, mit Moslems und Hindus und mit Sektenanhängern in demselben Gebiet zusammen. Die Menschen sehen und erfahren die andersartigen Überzeugungen und die sich daraus ergebenden Verhaltensweisen und Gewohnheiten.

Wenn es sich um das Zusammenleben von orthodoxen und Christen anderen Konfessionen handelt, dann sind die Gemeinsamkeiten beträchtlich. Das Glaubensbekenntnis von Nicäa-Konstantinopel und die damit zum Ausdruck kommende Weltsicht, die Taufe, eine Reihe von Gebeten und die Bedeutung des Sonntags als des Tages des Herrn, die Feiertage, welche die Verehrung gemeinsamer Heiliger angehen, auch Symbole, wie das Kreuz sind den Christen gemeinsam und erleichtern das gegenseitige Verständnis und das Miteinander in der Gesellschaft, auch wenn die Kenntnis und Vertrautheit mit der jeweils anderen Konfession, ihrer Entstehung und ihres Eigengewichts manchmal mangelhaft sind.

Toleranz bedeutet freiwillige Aufnahme des Anderen und ernsthaftes Bemühen, sein geistiges und sinnliches Wohlleben sicherzustellen. Und dies kann sich nur im Rahmen einer solchen Gesellschaft, die ein klares Bekenntnis zu den Grundwerten einer demokratischen Gesellschaft ausspricht, ereignen. Deswegen setzt Toleranz eine positive Wertorientierung voraus. Das bedeutet aber, dass man die Toleranz nicht erzwingen kann. Man kann im Namen der Toleranz nicht intolerant sein. Toleranz bedeutet einen entschiedenen Einsatz für die Durchsetzung der Grundprinzipien des Rechtsstaates, vor allem des Gleichheitsgrundsatzes, sowie für die Entwicklung hoher kultureller Werte und Verhaltensweisen.[19]

[1]     Vgl. 1 Kor. 13, 1-13.

[2]     Vgl. Eckehart Stöve, Art: Toleranz I, in: TRE, Bd. 647. 658.

[3]    Vgl. Ebd., 6.

[4]     Vgl. Greg. Nyss., Eun. II 149 (GNO I, 268, 28 JAEGER). Vgl. auch Plotin, Enn. V 3, 13, 1: ἄρρητον τῇ ἀληθείᾳ.

[5]     Vgl. Zizioulas, Ἀλήθεια 2013 (wie Anm. 4), 6-7.

[6]     Vgl. ebd., 7.

[7]     Vgl. Scholien in der Kirchlichen Hierarchie, III, 3, 2, PG 4,137D.

[8]     Bas. Caes., Hom. in illud: Attende tibi ipsi 6.

[9]     Vgl. Chrys., Hom. in Joh. 8,1 PG 59, 65, 33-38.

[10]    Vgl. Beschlüsse 1986 (wie Anm. 15), 394.

[11]    Vgl. Ep. 2, PG 102, 608BC.

[12]    Vgl. Fragmenta in epistulam I ad Corinthios 15, 557-558.

[13]    Vgl. Zizioulas, Communion and Otherness 2006 (wie Anm. 24), 1-2.

[14]    Vgl. Ebd. 55.

[15]   Vgl. 1 Joh 4,20: Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.

[16]    Vgl. Max. Conf., Quaest. ad Thalassium 64, PG 90, 725A.

[17]    Vgl. M. A Casey, The Puzzle of intolerant Tolerance, in: A. Rauscher (Hg.), Toleranz und Mens­chewürde, Berlin 2011, 159.

[18]    Vgl. Ebd., 159.

[19]    Vgl. J. Kranjc, Die religiöse Toleranz und die Glaubensfreiheit – das Beispiel des Edikts von Nikomedia und des Mailänder Edikts, in: Toleranz 2012 (wie Anm.17), 75.