Die Bedeutung der Orthodoxen Kirchen und Theologie für Europa

Vortrag Seiner Eminenz des Metropoliten Arsenios von Austria

Zur Ouverture Spirituelle der Salzburger Festspiele am 23. Juli 2016

 

 

Es ist mir eine große Freude und Ehre, Seine Allheiligkeit, den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomaios hier und heute vertreten zu dürfen. Gleichzeitig darf ich Ihnen seine herzlichen Grüße und Segenswünsche überbringen. Er würde gerne heute mit uns sein, aber seine Verpflichtungen lassen es leider nicht zu. Im Hinblick auf die aktuelle Lage in der Türkei bitte ich Sie, für das Ökumenische Patriarchat, alle Christen im Land und für alle Menschen in Not zu beten. Aus gegebenem Anlass möchte ich hier auch der Menschen gedenken, die gestern in München ihr Leben verloren haben. Auch für diese Menschen, ihre Angehörigen und für alle Bewohner der Stadt bitte ich um Ihre Gebete.

Einführend

In der wechselvollen Geschichte von Begriff und Wirklichkeit Europas ist es bezeichnend, dass der Gedanke an Europa immer dann pointiert auftrat, wenn den unter diesem Sammelbegriff zu vereinigenden Völkern Gefahr drohte. Dies ist nicht erst in unserer Zeit so, wo nach den beiden Weltkriegen angesichts der Zerstörungen in der europäischen Welt die Frage nach dem Abendland und nach der Wiederherstellung eines geeinten Europa drängend wurde[1]. Mit diesen Worten hat 1987 Joseph Ratzinger den Drang der europäischen Völker, eine Einheit zu bilden, dahingehend gedeutet, dass europäische Einheit erst immer durch die äußere und innere Gefahr der Auflösung und Zerstörung zu Stande kommt.

Aus diesem Blickwinkel heraus sollen die äußeren und die inneren Gefahren analysiert werden, die das Friedens-Konstrukt Europa bedrohen. Auch wenn in der Vergangenheit der Weg zu einem geeinten und vor allem der Traum für ein geeintes Europa als eine Einbahnstraße verstanden worden ist und der Zusammenschluss von immer mehr europäischen Völkern als Garant des Friedens und der Harmonie galt, hat sich in letzter Zeit gezeigt, dass die europäische Idee auf wackligen Beinen steht und sicherlich viele Geisterfahrer zu bewältigen hat. Nicht nur der Brexit scheint hierbei eine Gefahr für die europäische Idee zu sein, sondern jegliche Radikalisierung, in alle politische Richtungen. Diese scheinen den Traum der europäischen Vorväter und –mütter einer politischen Einheit Europas für die Bewahrung des Friedens und der Sicherheit des alten Kontinentes zu gefährden. Die permanente Terrorgefahr und die Angst, die mit jedem Anschlag in einer europäischen Stadt wächst, sowie die Flüchtlingsströme, die bei vielen den Anschein erwecken, als ob eine riesige ethnisch-religiöse Tsunamiwelle das einheimische Festland zu überfluten droht, sind Sorgen und Befürchtungen, die für den europäischen Kulturtyp der Zukunft maßgeblich prägend sein werden. Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (6.3.1874-23.3.1948) betonte in einer seiner Analysen seiner Zeitepoche während der vorletzten Jahrhundertwende unter anderem: „In der Geschichte, wie auch in der Natur, gibt es einen Rhythmus, einen rhythmischen Ablauf der Epochen und einen Wechsel der Kulturtypen, - Flut und Ebbe, Aufschwung und Niedergang, Rhythmus und Periodizität sind allem Leben eigen. Man spricht von organischen und kritischen, von nachtdunkeln und taghellen, von sakralen und profanen Epochen. Uns ist es beschieden, in der historischen Zeit des Übergangs zu einer neuen Epoche zu leben[2]. Auch wenn solche Epochen turbulent und wacklig erscheinen, sind sie richtungsweisend und damit Wendepunkte der Geschichte an sich. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns heute an einem Wendepunkt der europäischen Geschichte befinden, und damit schreiben wir nicht nur europäische Geschichte, sondern bahnen sie vor allem. Aus diesem Grund sind für ein Europa der Zukunft gutüberlegte und kühne Entscheidungen zu treffen: Für ein Europa der Zukunft, das seine Grundlagen auf den wahren Humanismus stützt, der meiner Ansicht nach christliche Wurzeln hat und weiterhin haben muss.

Als orthodoxer Hierarch frage ich mich aus diesem Grund, welche Rolle die Orthodoxe Kirche und Theologie für das werdende Europa spielen soll und muss. Was bedeutet Europa für die Orthodoxie und was die Orthodoxie umgekehrt für Europa?

Europa und die Orthodoxie

 

 Als 1981 die Republik Griechenland der Europäischen Gemeinschaft als zehntes Mitglied beitrat, war es für lange Zeit das einzige Mitgliedsland in der Europäischen Gemeinschaft und späteren Europäischen Union mit einer mehrheitlichen Orthodoxen Bevölkerung. Erst durch die Aufnahme Zyperns 2004, Bulgariens und Rumäniens 2007 sind der Europäischen Union weitere Länder mit mehrheitlich Orthodoxen Gläubigen beigetreten. Heute  sind sieben der vierzehn Orthodoxen Autokephalen Kirchen (Bulgarien, Rumänien, Zypern, Griechenland, Finnland, Polen, Tschechien und Slowakei) direkt in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verortet; die anderen autokephalen Kirchen sind in diversen EU-Mitgliedsstaaten mit Gemeinden oder Diözesen vertreten[3]: In diesem Kontext hat das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel sicherlich eine führende historische Rolle übernommen, was sich besonders in der Republik Österreich gesetzlich zeigt. So gesehen befinden sich im heutigen EU-Raum Orthodoxe Gläubige aus allen vierzehn autokephalen allgemein anerkannten Orthodoxen Kirchen. Das Orthodoxe Christentum ist somit ein fester religiöser aber auch kultureller Bestandteil der Europäischen Union. Als Mitglied der KEK, des ÖRK, aber auch vieler bilateraler und multilateraler ökumenischer und interreligiöser Dialogkommissionen trägt die Orthodoxe Kirche für die Verständigung der Kulturen, Religionen und nicht zuletzt auch Ideologien, nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt bei. Darüber hinaus beschäftigen die Orthodoxe Kirche vor allem auch ethische und sozio-ökologische Fragen, die vor allem vom Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios immer wieder hervorgehoben werden und die Europa und die Welt von morgen prägen sollen[4].

Das europäische Problem als humanistisches Problem

 

Papst Franziskus betonte in seiner Enzyklika Laudatio Si unter anderem die Führungsrolle des Ökumenischen Patriarchen für Umweltfragen. Der Papst erläutert hierbei den Grundgedanken des Ökumenischen Patriarchen, der meiner Ansicht nach auch eine Antwort auf alle Probleme ist, die Europa heimsuchen. Der Papst betont: „Zugleich machte Bartholomäus auf die ethischen und spirituellen Wurzeln der Umweltprobleme aufmerksam, die uns auffordern, Lösungen nicht nur in der Technik zu suchen, sondern auch in einer Veränderung des Menschen, denn andernfalls würden wir nur die Symptome bekämpfen. Er schlug uns vor, vom Konsum zum Opfer, von der Habgier zur Freigebigkeit, von der Verschwendung zur Fähigkeit des Teilens überzugehen, in eine(r) Askese ...“[5]. Hier befindet sich das grundlegende Problem unserer Zeit in allen Bereichen. Der permanente Versuch, nur Symptome zu bekämpfen, hat dazu geführt, dass viele Probleme in Europa immer wieder auftauchen, und die Harmonie zwischen den Völkern, die hart erarbeitet worden ist, zu einer langsamen Kakophonie werden lässt. Besonders sichtbar habe ich dies persönlich während der ökonomischen Krise in Griechenland erfahren, wo politische und vor allem mediale Polarisierungen von allen Seiten stattgefunden haben, die den Anschein erweckten, dass alte hart erarbeiteten Freundschaften über Nacht zusammengebrochen sind. Das europäische Problem ist in diesem Sinne vor allem ein „humanistisches Problem“, ein Problem der Sichtweise des Menschen an sich. Der anthropozentrische Humanismus, der seit der Renaissance und der existentialistischen Philosophie vor allem in Europa vorherrschend war, hat in den totalitären politischen Systemen Europas des letzten Jahrhunderts gezeigt, dass der von Gott abgespaltene Humanismus zu einer Eigenvergöttlichung des Menschen führen kann, der in den Totalitarismus fällt und somit jegliche Communio zerstört. Freilich ist mir klar, dass diese Strömung auch eine Reaktion auf das theokratische System des Mittelalters vor allem in Westeuropa war. Der Totalitarismus ist hierbei Produkt dieser menschlichen Idee, die als absolutes Dogma im negativen Sinne versucht, die Ideologie als Produkt eines Menschen oder einer Menschengruppe der gesamten Menschheit aufzuzwingen. Ideologie wird dadurch zur Wahrheit, einer Wahrheit, die absolut ex nihilo als Erschaffung der menschlichen Vernunft für den Menschen gesehen wird.[6]

Mit dieser Wahrheitsauffassung  jedoch wird die Wahrheit, die auf der menschlichen Idee basiert und als Ideologie ausgedrückt wird, geschichtlich wandelbar, da der Mensch, ihr Erschaffer, sich in der Zeit wandelt. Somit wird Wahrheit etwas Relatives.

Ich beziehe mich in diesem Punkt besonders auf den Wahrheitsbegriff, da ich tief davon überzeugt bin, dass unsere heutige europäische Gesellschaft ein tiefes Identitätsproblem hat, das sich aus der Wahrheitsdefinition ableiten lässt. Die Relativierung der Wahrheit lässt Wahrheit kein Absolutes mehr sein. Wahrheit muss aus diesem Grund in jeder Zeitepoche nicht nur neu definiert, sondern immer wieder neu erschaffen werden. Somit müssen wir heute, am Wendepunkt der europäischen Geschichte, vor der Aufgabe stehen, Wahrheit neu zu definieren, das heißt, eine neue Wahrheits-Ideologie für die Zukunft erschaffen.

Die Frage, die sich für mich hierbei stellt, ist, in wie weit dadurch auch die bisweilen absolut anerkannten europäischen Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bzw. die Menschenrechte an sich auch als relative Werte gesehen werden und dadurch im Fluss des Wandelbaren immer wieder neu definiert oder sogar revidiert werden müssen. Der Drang der europäischen Philosophiegeschichte seit Hegel, die Wahrheit mit der reinen Vernunft gleichzusetzen, hat heute dazu geführt, dass alles relativ anerkannt werden kann und dies ist die eigentliche Gefahr des heutigen Europa. Joseph Ratzinger hat 2005 bei der Eröffnung des Konklaves, aus dem er wenig später als Papst Benedikt XVI. hervorgegangen ist, von der Diktatur des Relativismus gesprochen, die keine absolute Wahrheit anerkennt, außer derjenigen der allgemeinen Relativierung.[7]

Die Relativierung der Wahrheit hat somit die Gefahr mit sich gebracht, jegliche Werte im Zeitgeist der menschlichen Wandelbarkeit auch zu wandeln.

Begriffe wie Teilhabe, Solidarität, Identifikation - Grundbegriffe, die bisweilen die europäische Idee geprägt haben, scheinen in einer neuen „ökonomozentristischen“ Welt, in der der Nomos – das Gesetz – des Kapitals über die Würde des Menschen gestellt wird, die Einheit Europas zu gefährden. Die Europäische Gemeinschaft als Communio ist tief durch sie durchdringende schismatische Strömungen gespalten, und oft erscheint der Einzelweg als notwendige Lösung, um seine eigenen Probleme anzugehen. Hierbei spiegelt sich eine tiefe Vertrauenskrise wider, die die europäische Idee betrifft.

Orthodoxe Theologie und europäischer Humanismus

Die Enttheologisierung der europäischen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass der Mensch keine absolute Wahrheit anerkennen kann. Die Säkularisierung als Vermenschlichung und Profanisierung des Heiligen hat dadurch zuletzt nicht nur eine Glaubenskrise in den Kirchen des Westens ausgelöst, sondern spiegelt sich in der Strukturkrise der heutigen Europäischen Union wider. Die Menschen verlieren ihr Vertrauen, da sie weder in den Strukturen, noch vielerorts in den Kirchen Hoffnung für die Zukunft finden. Die Orthodoxe Theologie und Kirche wird insbesondere in dieser Glaubenskrise Europas eine wichtige Rolle spielen müssen.

Der Bischof von Diokleia und emeritierter Dozent der Universität von Oxford Kallistos Ware versucht unter anderem die Heilsbotschaft mit den bereits erwähnten europäischen Eigenschaften der Teilhabe, Solidarität und Identifikation zu verbinden. In der Trennung der Heilsbotschaft von diesen Eigenschaften, die durch die Säkularisierung und Relativierung stattfindet, befindet sich demnach das Grundproblem der Vertrauenskrise. Kallistos Ware betont diesbezüglich: „Die christliche Heilsbotschaft lässt sich am besten zusammenfassen in Begriffen wie Teilhabe, Solidarität und Identifikation. Teilhabe ist ein Schlüsselbegriff sowohl für die Lehre vom dreieinigen Gott als auch für die Lehre vom menschgewordenen Gott. Die Lehre von der Dreieinigkeit“, betont Ware, „sagt aus, wie der Mensch nur in der Teilhabe an anderen wahrhaft Person wird, so ist auch Gott keine Person, die allein existiert, sondern er ist trinitarisch: drei Personen, die am Leben der anderen Personen jeweils in vollkommener Liebe teilhaben. Ebenso ist die Lehre von der Menschwerdung eine Lehre von der Teilhabe oder Teilnahme“[8].

Der orthodoxe bzw. christliche Humanismus basiert hierbei auf dem Personbegriff, der sich aus der Gotteslehre selbst ableiten lässt. Die Communio/Beziehung als göttliche Ausdruckform bildet sich demnach vollkommen sowohl im trinitarischen als auch im christologischen Dogma ab. Nach dem griechischen Ethikprofessor Georgios Mantzaridis wurden mit der Formulierung dieser zwei Dogmen innerhalb der Kirche im Grunde die klassischen Logikprinzipien von Identität und Gegensatz überwunden, und es entstanden neue grundsätzliche Denk- und Lebenskategorien, die man als trinitarisch und gottmenschlich bezeichnen kann. Durch das trinitarische Dogma wurde die Polarisierung von Subjekt und Objekt, von Individuum und Gesellschaft überwunden, während durch das christologische Dogma der Gegensatz zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, zwischen Geist und Materie aufgehoben wurde[9]. Das trinitarische Dogma ist hierbei ein Bekenntnis zur Personengemeinschaft und das christologische eine Bekenntnis zum Mysterium an sich. Hier lässt sich ein Personenbegriff für die Zukunft der europäischen Gesellschaft ableiten, der eine wichtige Rolle spielen wird. Mariano Delgado versucht, die Rolle des Christentums für das zukünftige Europa vor allem darin zu sehen, dass dieses „mit Vernunftgründen überzeugen und den freien Willen mit einer neuen Moral“  propagieren soll[10]. Delgado hat hierbei sicherlich Recht, wenn er von der Betonung des Schutzes der Menschenwürde und der Menschenrechte, der Ehe und der Familie oder von der Ehrfurcht und dem Respekt vor dem Heiligen spricht[11], jedoch muss man sicherlich hier die Wurzeln der Menschenwürde und der Menschenrechte, der Ehe und der Familie darstellen, die ohne Zweifel im  Personenbegriff ausgedrückt werden. Es bedarf aus diesem Grund mehr als einer Neuformulierung der Moral bzw. des Ethos, sondern einer Wiederentdeckung des Personenbegriffes, der tief mit dem christlichen Dogma verbunden ist. Das christliche Dogma ist demnach nicht bloß eine juristische Formulierung einer christlichen Glaubenslehre, sondern ein existenzielles Bekenntnis des Lebens an sich. Ein Bekenntnis zur Communio, aus dem Glauben heraus, dass diese eben nicht nur eine menschliche Idee – eine Ideologe ist, sondern dass diese eine unveränderbare göttliche Eigenschaft ist, die sich in der Menschheit widerspiegelt und zur Theosis/Vergöttlichung führt.

Ratzinger erkannte in der westlichen Welt einen „dogmatischen Negativismus“ der nach Beinert dazu führt, dass das Dogma für: „Rechthaberei, Denkstarre und Denkverbot steht. Dogmatisch sein und Dogmatik treiben wird zum Synonym für Borniertheit schlankweg“[12]. Hierbei wird das Dogma von der Wahrheit getrennt und enthypostasiert. Das Dogma wird dadurch wahrhaftig nur zum Gesetz – zur Philosophie, und aus diesem Grund wird dies zu Recht als Denkstarre und Denkverbot gesehen. Für die Orthodoxe Theologie ist das Dogma die Οδός, der Weg hin zur Wahrheit, die befreiend wirken soll. Der Topos des gelebten Dogmas ist in der Orthodoxen Kirche ohne Zweifel die göttliche Liturgie.

Die eucharistische Ekklesiologie, die in den letzten Jahren vom Bischof von Pergamon Metropolit Ioannis Zizioulas[13] formuliert worden ist, drückt in der reinsten Form das Communio-Mysterium aus. Die Teilhabe an der göttlichen Liturgie ist hierbei eine Bekenntnis nicht nur zur Communio, sondern vor allem ein Bekenntnis zum Mysterium. Die Hoffnungstheologie, die aus der liturgischen Tradition der Orthodoxen Theologie strömt, ist einer der Faktoren, dass im heutigen ökonomisch geplagten Griechenland die Menschen in der Liturgie die Hoffnung für die Zukunft finden. Die Enttäuschung seitens der weltlichen, politischen Strukturen hat in den letzten Jahren bei vielen Menschen zur Wiederentdeckung des Mysteriums im Mysterium der Liturgie geführt – als Topos der Hoffnung. Die Erfahrung der Wahrheit nicht als eine philosophisch-menschliche, sondern als theologisch-göttliche Größe, als eine Wahrheit, die nicht ein abstrakter Gedanke ist, sondern eine zu kommunizierende Person, die in Jesus Christus erfahrbar wird, lässt Wahrheit existieren. Wahrheit wird dadurch ein Fakt, und nicht ein immer wieder zu formulierender Gedanke. Die Orthodoxe Liturgie, als eschatologischer Topos im Präsens, wo das christliche Dogma am stärksten gelebt und erfahren wird, ist dadurch nicht nur ein ekklesiologischer Topos, sondern ein Topos, wo zwischenmenschliche Einheit geschaffen wird, die wiederum gesellschaftsfördernd  ist[14].

Das europäische Grundsatzproblem und die Orthodoxe Theologie

Der griechische Philosoph Christos Yannaras unterstreicht zu Recht, dass der gemeinsame Ort des Lebens sich dann unterscheidet, wenn man unterschiedlich existenzielle Notwendigkeiten unterschiedlich hierarchisiert. Yannaras hebt aus diesem Grund hervor, dass „die Hierarchisierung der Notwendigkeiten sich ändert, wenn sich die Bedeutung der menschlichen Existenz und Koexistenz ändert“[15]. Aus diesem Grund kommt er zum Schluss, dass in der westlichen Gesellschaft durch die Grundsatzentscheidung, eine ökonomische Interessensgemeinschaft zu sein und nicht in erster Linie eine Wertegemeinschaft, eine Änderung der existenziellen Sichtweisen stattfindet. Europa verliert demnach seine existenzielle Grundstruktur der Personengemeinschaft und entwickelt sich zu einer „Atom-Gemeinschaft“[16], wo der einzelne  - το Άτομο, in den Mittelpunkt rutscht. Dies drückt sich besonders in der heutigen Konsumgesellschaft aus, wo die Ausbeutung der Natur und des Mitmenschen nichts mehr mit der Persongemeinschaft zu tun hat, auf der meines Erachtens die gesamte europäische Idee aufgebaut ist. Wenn Europa es nicht schafft, seine Personenbild wieder zu gewinnen, befürchte ich, dass die Einzelinteressen nicht nur der Länder untereinander, sondern auch der Menschen in den Ländern untereinander, viele Schismata in der Gesellschaft herbeiführen werden.

Schlussgedanken

 

Die Aufgabe, die die Orthodoxe Theologie und Kirche als ihren Beitrag für ein geeintes Europa leisten wird müssen – und dies in Zusammenarbeit mit den anderen Schwesterkirchen, ist eine Neuevangelisierung der europäischen Gesellschaft. Ich bin tief davon überzeugt, dass das Wahrheitsbild und das daraus zu erschließende Menschenbild existenzielle Änderungen im Wertesystem Europas zur Folge haben würde, wenn die europäische Gesellschaft vollkommen von ihren christlichen Wurzeln abgeschnitten wird. Der christliche Humanismus ist eine Wahrheit, die auf dem Dogma basiert, so wie dieses dargestellt worden ist. Das Menschenbild als Abbild des Göttlichen, wie es in der Orthodoxen Anthropologie gesehen wird, kann sich einerseits nicht von der Communio/Gemeinschaft lossagen (Trinitätslehre), da es hier das Abbild der Trinität widerspiegelt, andererseits wir gerade durch das christologische Dogma von Chalzedon die Nähe Gottes zu den Menschen in der Zwei-Naturen-Lehre betont. Die Gleichheit aller Menschen ist eben dadurch gewährleistet, dass Gott Mensch geworden ist. Hier ist die Gleichheit der gesamten Menschheit in ihrer perfektesten Form dargestellt. Dies hat eine soteriologische Dimension, denn nur auf Basis dieses Selbstverständnisses der Menschen, in der jede und jeder von gleicher Würde ist, kann Zusammenleben gelingen. Wenn wir unser Leben in diesem Bewusstsein gestalten, zeichnen wir – schon hier auf Erden – abbildhaft voraus, was uns in seiner ganzen Fülle im künftigen Leben verheißen ist. In jedem Menschen spiegelt sich Gott wider und erst hieraus versteht sich das europäische Menschenbild. Dieses Mysterium der europäischen Gesellschaft wieder mitzuteilen, wird wohl die Grundvoraussetzung der Orthodoxen Kirche in Europa sein müssen, nicht nur im Wort, sondern vor allem als lebendig gelebtes Beispiel. Die Kirche muss in diesem Sinne die prophetisch-eschatologische Stimme der Gesellschaft sein, die die Wahrheit als absolutes humanistisches Recht immer wieder zum Vorschein bringt. In diesem Sinne möchte ich meinen Vortrag mit den Worten Nikolai Berdiajews beenden: „Ein Mensch prophetischen Charakters hört nicht auf die Stimme, die von außen kommt, auf die Stimme der Gesellschaft und des Volkes, er hört ausschließlich auf die innere Stimme, auf die Stimme Gottes. Seine Botschaft aber betrifft das Schicksal des Volkes, der Gesellschaft, der Menschheit. Der Prophet ist einsam, er steht mit dem religiösen oder sozialen Kollektiv in Konflikt, er wird mit Steinen beworfen, er gilt als Feind des Volkes, doch ist er sozial, sagt dem Volk bzw. der Gesellschaft die Wahrheit, sieht die künftigen Schicksale der Menschheit voraus.“[17] In diesem Sinne muss Kirche auch für unsere heutige europäische Gesellschaft prophetisch wirken und auf die Wahrheit deuten.



[1]Joseph Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik, Einsiedeln 1987, S. 198.

[2] Nikolaus Berdjajew, Das Neue Mittelalter. Betrachtungen über das Schicksal Russlands und Europas, Darmstadt 1927, 13.

[3]Die zu Pfingsten 2016 auf Kreta gefeierte Große und Heilige Synode der Orthodoxen Kirche hat sich unter anderem mit der Situation der Orthodoxen Kirchen in der Diaspora beschäftigt. Orthodoxe Bischofskonferenzen – wie es sie etwa seit 2010 auch in Österreich gibt – sind in mittel- und westeuropäischen Ländern für die dort in einem mehrheitlich katholischen oder protestantischen oder laizistischen Umfeld lebenden orthodoxen Minderheiten als organisatorische Struktur der Orthodoxie ein sichtbares Zeichen der innerorthodoxen Einheit und oftmals auch mit ganz praktischen Fragen beschäftigt: Die Orthodoxe Bischofskonferenz Deutschlands hat etwa für ihren Wirkungsbereich liturgische Texte in deutscher Sprache herausgegeben; unsere Österreichische  Orthodoxe Bischofskonferenz wiederum veranstaltet im Jahr 2016 bereits zum fünften Mal ein Panorthodoxes Jugendtreffen über die nationalkirchlichen Grenzen hinweg.

[4] Vgl. Fr. John Chryssavgis, The ecological Vision of the Green Patriarch Bartholomew I., Cambridge UK, 2003; vgl. auch ders., On earth as in Heaven. Ecological Vision and Initiatives of Ecumenical Patriarch Bartholomew, New York 2012. Für eine allgemeine orthodoxe Stellungnahme zum Ökologischen Problem siehe ders. (Hg.), Towoard an Ecology of Transfiguration. Orthodox Christian Perspectives on Enviroment, Nature and Creation, New York 2013.

[5] Papst Franziskus, Laudatio Si, Rom 2015, 9.

[6] Bezüglich des Zusammenschlusses von Ideologie und Wahrheit und des Einflusses der Philosophie auf die politischen Systeme Europas, vergl. Hans Albert, Ideologie und Wahrheit. Theodor Geiger und das Problem der sozialen Verankerung des Denkens, Opladen 1973.

[7] Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, Predigten und Ansprachen April/Mai 2005, Rom 2005, 12-16. Vergl. diesbezüglich auch Marian Gruber (Hg.), Diktatur des Relativismus. Der Kampf um die absolute Wahrheit für die Zukunft Europas, Heiligenkreuz 2014.

[8] Kallistos Ware, Der Aufstieg zu Gott. Glaube und geistliches Leben nach ostkirchlicher Überlieferung, Bern 1998, 101.

[9] Georgios Mantzaridis, Soziologie des Christentums, Berlin 1981, 91.

[10] Mariano Delgado, Europa ein christliches Projekt, in: Urs Altermatt, Mariano Delgado, Guido Vergauwen (Hrsg.), Europa: Ein christliches Projekt. Beiträge zum Verhältnis von Religion und europäische Identität, Stuttgart 2008, 35-57, hier 54.

[11] Ebd, 54-55.

[12] Siehe Joseph Ratzinger, Kirche Ökumene Politik, 206 f.

[13] Vergl. dazu Stefanos Athanasiou, Der Bischof von Pergamon Ioannis Zizioulas und die eucharistische Ekklesiologie, in: Cornelius Keppeler, Justinus C. Pech (Hrsg.), Zeitgenössische Kirchenverständnisse. Acht ekklesiologische Porträts, Heiligenkreuz 2013, 235-255.

[14] Vergl. dazu Stefanos Athanasiou, Die Sprache des Dialoges mit Gott und den Mitmenschen. Das hypostatische Gebet als ökumenisches Ereignis, in: Johann Hafner, Julia Enxing, Andre Munzinger (Hrsg.), Gebetslogik. Reflexionen aus interkonfessioneller Perspektive, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 103, 81-94.

[15] Christos Yannaras, Europa wurde aus dem Schisma geboren (griech.), Athen 2005.

[16] Mit dem Begriff Atom-Gemeinschaft meine ich die Auflösung der Communio in der heutigen Gesellschaft. Die Entwicklung von einer Personengemeinschaft, wo die Communio im Mittelpunkt stand, zu einer Gesellschaft, wo der einzelne, das Atom (Άτομο) die existenzielle Kraft der Gesellschaft wird.

[17] Nikolaj Berdjajew, Fortschritt Wandel Wiederkehr Arche, Zürich 1978, 57-58. 

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