Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Ansprache S. Em. Metropolit Arsenios von Austria

am 30.09.2023 am 10. Panorthodoxen Jugendtreffen in Wien

Mitt großer Freude nehme ich am 10. Panorthodoxen Jugendtreffen teil: Ihr seid die Blüte, die Hoffnung und der von Gott auserwählte Teil der orthodoxen Diaspora, die über die ganze Welt verstreut ist.

Das zehnjährige Jubiläum unseres Jugendtreffens ist sehr wichtig: Es zeigt die Dynamik dieser Treffen. Εs ist ein konkretes Zeichen dafür, dass die Jugendtreffen von Euch angenommen werden; wie wichtig sie für Euch alle sind, die ihr Euch mit so viel Herzblut dafür einsetzt und an den Jugendtreffen teilnehmt, diskutiert, nachdenkt und reflektiert. Auf den panorthodoxen Jugendtreffen sucht ihr nach Wahrheiten und Erfahrungen des Lebens, des christlichen Lebens, die Eurem Weg durch die Welt eine Perspektive und einen Sinn geben.

Wenn ich vor Euch stehe und Euch von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe – denn das ist es, was das Christentum ist: eine Begegnung, eine Beziehung und eine Einheit von Personen – wenn ich also in eure Augen schaue, dann bin ich bewegt von der Jugendlichkeit, und der Frische, die ihr ausstrahlt, und ich bin beeindruckt von der Dynamik und der Entschlossenheit, die ich in Euren Augen bemerke.

Ich weiß genau, dass diese Dynamik und diese Entschlossenheit Euch antreiben, das Schönste und Beste in Eurem Leben anzustreben und sogar die ganze Welt zu verändern.

Heute will ich Euch nur eines mitgeben: Bewahrt Euch diese Dynamik und Entschlossenheit für Euer ganzes Leben, doch nicht für sich allein. Taucht sie ein, vermischt sie mit geeignetem Material und mit einer besonderen Zutat, die die ganze Mischung verändern wird und die Euer Leben sowie das Leben Eurer Mitmenschen wirklich schön, lebenswert und köstlich machen.

Was ist dieses Material und diese besondere Zutat? Sie ist nichts anderes als die Liebe, natürlich die gottgemäße Liebe. Gut und schön, werdet ihr jetzt sagen – viele Arten von Liebe gibt es denn? Gibt es nicht nur eine Liebe? Gibt es eine gottgemäße und eine andere Liebe?

Tatsächlich gibt es nur eine Liebe, die wahre, echte und authentische Liebe. Es handelt sich dabei nicht um eine unpersönliche oder theoretische Liebe, um ein Gefühl, ein Symbol oder einen Vertrag. Es ist eine persönliche Liebe, eine Liebe, die sich an Personen richtet, nämlich an die Person Gottes und die Personen unserer Mitmenschen, an unsere Schwestern und Brüder. Zugleich ist es auch eine Liebe, die eine Person hat, die Person Gottes, denn „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,7).

Es ist die Liebe, wie sie uns Jesus gelehrt hat, der zu uns herabgestiegen ist, „geboren aus einer Frau“ (Gal 4,4), der die „Gestalt eines Sklaven“ angenommen hat (Phil 2,7). Diese Liebe hat eine doppelte Richtung: sie ist die Liebe zu Gott und zu den Menschen. Ihr kennt das Gebot Gottes aus dem Alten Testament: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,37–39) An diesem Gebot Gottes, das auch Christus selbst wiederholt hat, wird deutlich, dass die Liebe nicht nur ein bloßes Gefühl ist, sondern mit allen Kräften der Seele ausgedrückt wird, d. h. im Denken, im Fühlen und im Wollen. Die Seele des Menschen, so der heilige Athanasius, „liebt mit ihrem denkenden Teil Gott, mit ihrem fühlenden Teil wütet sie gegen das Böse und mit ihrem wollenden Teil begehrt sie die ewigen Güter“ (PG 28, S. 533 ff.). Die Liebe besteht nicht nur aus leeren Worten, sondern aus dem ganzen Leben, sie ist die Hingabe von uns selbst an Gott und an unsere Schwestern und Brüder, an unseren Nächsten.

Jesus Christus hat uns diese Liebe aber nicht nur mit Worten gelehrt, sondern als echter Lehrer, der Er gewesen ist, hat Er sie vor allem mit Seinem eigenen Beispiel vorgelebt, in Seinem irdischen Leben. Er hat sie uns gelehrt, indem er aus Seinem freien und heiligen Willen für uns alle das Kreuz auf Sich genommen hat, um uns den Weg für ein Leben im Paradies zu öffnen. Dieses Leben beginnt bereits hier auf Erden mit einem „kleinen Paradies“ – mit der gleichen Liebe, wie Er sie uns selbst vorlebte.

Auf dem Kreuz hat Er uns die grenzenlose Liebe gezeigt, nicht eine übermäßig gefühlsbetonte Liebe. Auf dem Kreuz wurde die Liebe als Person sichtbar und diese Liebe heißt der Gekreuzigte, sie heißt Jesus Christus. Auf dem Kreuz zeigt sich also die vollkommene Liebe, die vollkommene Entäußerung, die vollkommene Demut – auf dem Kreuz offenbart sich, wer der wahre Gott ist, der niemanden zu etwas zwingt. Auf dem Kreuz lädt Er uns dazu ein, Ihm zu nachzufolgen, doch nur, wenn wir das aus freien Stücken möchten.

Die wahre Liebe ist Frucht der Freiheit von Leidenschaften. Wenn wir uns von Leidenschaften beherrschen lassen, beherrschen diese auch die Liebe. Zum Beispiel weisen Ehrgeiz, Sinneslust und Geiz zwar einige Elemente der Liebe auf, doch sind diese letztlich auch verbunden mit leerem Ruhm, mit Lust und Geld. In diesen Fällen kann man Gott und den Mitmenschen nicht vollkommen lieben, denn sie sind mit Leidenschaften verbunden, denn letztlich liebt man sich selbst, was man als Egoismus bezeichnet.

Damit wahre Liebe existieren kann, muss der Mensch zuvor geheilt werden. Im Wesentlichen ist diese Heilung eine Umwandlung der eigennützigen Liebe in eine uneigennützige Liebe. Dort, wo die Liebe eigennützig ist, dort herrscht Krankheit. Doch wo die Liebe uneigennützig ist, dort gibt es geistige Gesundheit.

Der Apostel Paulus weiß allerdings, dass auch der geistig erkrankte Mensch lieben kann und spricht daher davon, dass die Liebe ungeheuchelt sein muss. Denn die heuchlerische Liebe und die nicht geheuchelte Liebe sind zwei verschiedene Dinge. Die heuchlerische Liebe ist voller Lügen und Theatralik, sie ist äußerlich und überheblich, sie hat ein falsches Lächeln, sie ist geprägt von äußerlichen Ausdrücken und verbreitet üblicherweise Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Die ungeheuchelte Liebe dagegen ist wahr, sie ist vollkommen und strahlt Freude, Friede und Hoffnung aus.

Die Erfahrung zeigt, dass es in unserer Gesellschaft viel zu viel falsche, heuchlerische Liebe gibt. Keine andere Tugend ist so sehr missbraucht worden wie die Liebe. Schauspieler können die Haltungen und Charaktere anderer Menschen eindrucksvoll nachahmen. Doch was in diesem Fall im Theater oder Kino eine Gabe ist, ist ein großes Unglück, wenn es sich um die geheuchelte Liebe handelt. Wie schrecklich ist es, Menschen zu begegnen, die einfühlsame Liebe oder heuchlerische Liebe an den Tag legen! Und wie wunderbar ist es, Freunde zu haben, die sich durch ihre Aufrichtigkeit und ungeheuchelte Liebe auszeichnen!

Der heilige Isaak von Syrien schreibt, dass Abba Agathon einen Aussätzigen finden und dessen kranken Körper mit seinem eigenen gesunden Körper austauschen wollte. Und er sagt, dass dies die vollkommene Liebe ist. Er selbst schreibt, dass die wahre Liebe nach Gott süßer ist als das Leben.

Das also ist die eine und authentische Liebe. Es ist die gekreuzigte Liebe, wie sie uns unser Herr auf dem Kreuz geoffenbart hat; sie ist eine opferbereite Liebe, wie sie uns Christus mit seinem Opfer aufgezeigt hat; sie ist eine gebende und keine nehmende Liebe, die sich hingibt, ohne dafür Lohn oder Gegenleistungen zu erwarten; sie ist eine persönliche Liebe, denn im Christentum hat alles mit Personen zu tun, mit Beziehungen zwischen Personen, zwischen vernunftbegabten und selbstständigen Menschen.

Die Liebe ist auch unparteiisch, denn „es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Diese Liebe kennt keine nationalen, ethnischen, kulturellen, sozialen oder andere Unterscheidungen und Stereotypen; sie ist eine Liebe der Taten und nicht der Worte, sie besteht nicht aus trockenen Worten und ist keine „Wissenschaft der Liebe“. Der Apostel Jakobus hält in seinem Brief fest: Wenn ihr arme und bedürftige Menschen seht, denen das Lebensnotwendigste fehlt, dann sagt nicht zu ihnen „Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!“ (Jak 2,16), sondern gebt ihnen das, was sie brauchen: Gebt ihnen zu essen, damit sie ihren Hunger stillen, und gebt ihnen eine Matratze, um ihre kalten Körper zu wärmen. Das ist Liebe.

Die Liebe ist nicht einfach gleichzusetzen mit den Freuden, den schönen Momente, den Festessen, Banketten oder Feierlichkeiten, mit den manchmal falschen Umarmungen und der vorgetäuschten oder oberflächlichen Sorge um den Nächsten. Im Gegenteil ist die Liebe die Sorge des Herzens, sie ist der Schmerz um des Schmerzes des anderen willen, die Tränen um seiner Tränen willen, um den Schweiß, die Mühe, und die Mühsal zu lindern, um die Lasten des Bruders zu erleichtern, ihm die Hand zu reichen und ihn aufrecht zu halten auf den schwierigen Pfaden seines irdischen Weges.

Die eine und echte Liebe ist außerdem eine langmütige Liebe, sie hat ihren Ursprung im Übermaß des Herzens, eines großzügigen und hochherzigen Herzens, das jeden aufnehmen kann, auch diejenigen, die uns nicht mögen oder lieben, so wie unser Erlöser mit seiner langmütigen Liebe Judas in den Kreis seiner zwölf Jünger aufnahm und ihn nicht fortschickte, sondern ihm sogar die Verwaltung der gemeinsamen Kasse der Gruppe anvertraute, obwohl Judas des Öfteren Beträge daraus abzweigte. Aber der Herr hat bis zum Schluss nicht aufgehört, ihm Gelegenheit zur Umkehr zu geben, obwohl er als allwissender Gott seinen Verrat und dessen tragischen Ausgang bereits voraussah.

Das ist also die einzige und wahre Liebe, die gottgemäße Liebe. Aber leider lieben in unseren Tagen viele Menschen, vielleicht die meisten Menschen, nicht mit dieser Art von Liebe, mit der Liebe unseres Christus. Sie reden von der Liebe, aber sie leben sie nicht, sie hören von der Liebe, aber sie kosten nicht von ihr. Sie glauben, ihren Nächsten zu lieben, aber am Ende lieben sie doch nur ihr eigenes Ich.

Sie gleichen nicht dem barmherzigen Samariter aus dem Evangelium, sondern sie ähnlich im Wesentlichen eher dem Priester und dem Leviten, die ihren halbtoten Bruder und Nächsten ignorieren und am Wegrand liegen lassen. Liebe ist für sie ohne wirkliche Taten, keine Hinwendung zu den Nächsten in einer persönlichen Begegnung der Unterstützung und einer Beziehung des Zusammenlebens mit ihm, sondern nur etwas Statisches, Unpersönliches und Abstraktes, letztlich etwas Lebloses und Abgestorbenes. Letztlich sind sich solche Menschen nur selbst die Nächsten.

Doch der Nächste ist in Wirklichkeit jeder, oder zumindest kann es jeder werden. Die Nächsten sind nicht nur die örtlich oder seelisch Nächsten oder die Verwandten; die Nächsten sind nicht nur die Eltern, die Geschwister, unsere Partner, Freunde, Mitbürger und Landsleute. Unser Nächster ist auch der, der es uns vielleicht schwer macht, der uns vielleicht nicht versteht, der anders ist als wir. Als Menschen sind wir uns alle die Nächsten, da wir alle als Söhne und Töchter Gottes des Vaters Geschwister sind und da wir als orthodoxe Christen durch die gemeinsame Taufe die gleiche Mutter haben, die Kirche.

Und da die Liebe nicht statisch in sich geschlossen, sondern Bewegung ist, ein Heraustreten und Überschreiten der Grenzen unseres eigenen Ichs, deshalb ist werden wir selbst zum Nächsten. Das ist aber natürlich nicht möglich, wenn wir in uns selbst verschlossen bleiben und darauf warten, dass die anderen zu uns kommen, sondern wir selbst müssen den anderen suchen und begegnen, wir selbst müssen unsere Schwester und unseren Bruder finden, besonders dann, wenn sie in Not sind und unsere Hilfe brauchen. Wer den nächsten liebt, gibt seine eigene Ruhe auf und macht sich auf den Weg, um zum Weggefährten, Partner, Bruder oder Schwester, Tröster oder Beschützer des anderen wird, besonders der Bedürftigen, der ungerecht Behandelten und der Armen.

Wie Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gezeigt hat, lautet die richtige Frage nicht „Wer ist mein Nächster?“, sondern „Wem bin ich der Nächste?“. Das heißt, dass wir uns selbst prüfen müssen, ob wir das Gebot der Liebe zu den Menschen um uns herum auch wirklich erfüllen, anstatt uns auf äußere Kriterien zu konzentrieren, um zu entscheiden, ob wir ihnen helfen sollten.

Und letztendlich ist der Nächste kein Ort, der Nächste ist vielmehr ein Ziel, es ist die Art und Weise, wie man lebt und wie man die Liebe in seinem Leben und in seinem Alltag Gestalt annehmen lässt. Und wer den Nächsten so sehr liebt, der sieht ihn ihm seinen Bruder und spürt die Gegenwart seines Bruders auch in seiner Abwesenheit.

Wer seinen Nächsten liebt, der lässt kein Hindernis gelten, der kennt keine Grenzen, um seinem Mitmenschen zu begegnen, um seinen Schmerz anzuhören, seine Tränen zu trocknen, um ihm als Begleiter und Mitleidender in den Schwierigkeiten und Problemen, die ihn belasten und bedrängen, zur Seite zu stehen.

Und der erste und größte unter allen, die den Nächsten lieben, ist unser Heiland Jesus Christus selbst, „der aus der Jungfrau Maria geboren wurde“ und der uns so sehr geliebt hat, dass Er Mensch geworden ist und „wie ein Sklave und den Menschen gleich wurde“ (Phil 2,7). Christus hat zusätzlich zu unserer Sünde und unserem Versagen auch unsere verletzte menschliche Natur auf sich genommen und schenkte uns durch sein freiwilliges Opfer am Kreuz die Heilung und die Möglichkeit, das ewige Leben zu erlangen.

Ich wünsche mir von Herzen, dass ihr alle selbst in eurem Leben die echte, wahre und unverfälschte Liebe Gottes spürt und diese dann wiederum selbst großzügig weitergebt. Ich wünsche und dass wir alle darin voranschreiten und einander schließlich an unserem Ziel, in der Ewigkeit und im ewigen Reich Gottes, begegnen werden.

Möge Gott Euch alle behüten!

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